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Samira Teil 5

Hier hielt Asifa ein erstes Mal in ihrer Erzählung an, nahm einen weiteren Schluck Tee zu sich, denn durch das lange Erzählen war ihr Hals trocken geworden. Sicher eine Minute starrte sie einfach nach vorne, sagte keinen Ton mehr. Dann schloss sie ihre Augen und ich fragte mich, ob sie die Szene, die sie erzählt, hatte jetzt vor sich sah. Ich hatte zwischendurch öfters meine Augen geschlossen und die Bilder zu ihrer Erzählung gesehen.
Dabei war ich darüber erstaunt, dass sie es mir auf diese Art erzählte. Die Art, wie sie erzählte, welche Worte sie benutzt und vor allem der Inhalt waren etwas sehr persönliches. Eigentlich kannte sie mich nicht, vertraute mir trotzdem diese intimen Details an, als wenn ich ein langjähriger Freund war.
Asifa nahm einen weiteren Schluck aus der Tasse, sah dabei aber nicht hin, den sie hielt weiterhin die Augen geschlossen. Erst später stellte sie die Tasse auf den Tisch, goss sich erneut ein, trank aber nicht davon. Wahrscheinlich war der Tee noch zu heiß.„Wo war ich stehen geblieben!“, kam von ihr, doch ich vermutete, dass es eine rein rhetorische Frage war, die ich ihr nicht beantworten musste.
„Ach ja!“, kam es sofort und ich wusste, dass ich richtig gelegen hatte.
„Mutter wurde schwanger und damit schwand ihr Preis. Sie wurde schnellstmöglich verkauft, denn durch sie, waren drei der wichtigsten Männer des Stammes umgekommen und man gab ihr die Schuld, an dem ganzen. Nur die Tatsache, dass sie schwanger war, rettete sie vor dem Zorn der Menschen. Sie waren der Meinung, dass das Ungeborene keine Schuld an der Sache trug, und durfte daher weiterleben.
Mutter wurde an einem Mann verkauft, der wenig Rücksicht auf sie und ihren Zustand nahm. Er schlug sie, misshandelte sie und es war ein Wunder, dass ich nicht verloren ging. Das wiederum veranlasste ihn, Mutter noch mehr zu quälen. Er selber wollte seinen Nachwuchs zeugen, konnte es aber aus verständlichen Gründen nicht.
Einmal suchte er sich Hilfe, wollte nicht, dass Mutter mich austrug. Also ging er zu einer seiner Bekannten, von der er wusste, dass sie sich bestimmter Mittel bedienen konnte, um Mutter von dem Kind zu befreien. Sie war eine angesehene Heilerin und zugleich so etwas wie eine Frau, die sich den schwarzen Künsten verschrieben hatte. Doch davon wussten nur wenige. Nicht einmal der Eigentümer von Mutter wusste davon. Mutter wurde ruhiggestellt und die Frau sollte nach dem Willen des Mannes verfahren. Sie untersuchte Mutter gründlich, erkannte den schlechten Zustand von Mutter und meinte zu dem Mann, dass es ein großes Risiko darstellte. Es könnte passieren, dass Mutter bei der Prozedur starb.
Das war ihm egal. Es interessierte ihn nicht, schließlich hatte er sie billig gekauft und es wäre kein großer Verlust gewesen. In dem Zustand, in dem Mutter war, diente sie ihm zu nichts.
Die Heilerin machte sich ans Werk und schaffte es Mutter diverse Tränke zu verabreichen, obwohl sie sich wehrte. Doch auch hier war ihre Kraft zu gering und konnte es nicht verhindern. Doch zur Verwunderung aller, wurde die Schwangerschaft nicht unterbrochen. Sie konnte tun, was sie wollte, meine Mutter blieb, wie sie war.
Jetzt blieb nur noch die eine Möglichkeit. Mutter sollte mit Hilfe von Magie ihr Kind verlieren. Stundenlang wurde sie entsprechend von der Frau behandelt, sie wandte jede Art von Zauberei an, die sie kannte. Aber auch das hatte keinen Erfolg. Im Gegenteil. Die Frau erkannte, dass etwas mit Mutter oder ihrem Kind nicht stimmte. Sie hatte es noch nicht erlebt, dass ihre Bemühungen nicht fruchteten.
Sie strengte sich noch mehr an, unternahm die ganze Nacht lang, die schrecklichten Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung standen, aber auch das nutzte nichts. Als der Mann am nächsten Morgen kam, um sich nach dem Ergebnis zu erkundigen, fand er sie tot vor und er sah ein eingebranntes, schwarzes Mal auf ihrer Stirn.
Jetzt hielt ihn nichts mehr. Aus Angst, dass Mutter auch ihm etwas antun könnte, warf er sie aus dem Haus, überließ sie ihrem Schicksal. Aber es war bereits zu spät. Zehn Tage später fand man ihn, als ein Verwesungsgeruch seine Spur anzeigte, im Keller seines Hauses. Er hatte sich selber aufgehängt. Wenn man genauer hinsah, konnte man auch auf seiner Stirn ein winziges, schwarzes Mal erkennen. Aber das sah niemand.
Mutter schleppte sich weiter, fand bei den ärmsten der Armen Unterschlupf. Diese kümmerten sich so gut es ging um sie, gaben ihr zu essen und trinken, wenn sie es sich nicht selber besorgen konnte.
Es kam der Tag, an dem ich geboren wurde. Wie bei meiner Zeugung hingen schwere Wolken am Himmel und es war nur eine Frage der Zeit, wann es anfangen würde zu regnen.
Mutter bekam ihre Wehen und die ersten Tropfen fielen, während es im Hintergrund laut grummelte. Es war Abend und die ersten Blitze zuckten über den Himmel, erleuchteten kurzweilig die Szene. Mutter lag unter einer notdürftig gespannten Plane, während eine der Alten neben ihr hockte und beistand leistete. Die Wehen kamen immer stärker und in kürzeren Abständen. Der Regen begann herabzuprasseln und weichte den Boden um die beiden auf. Schlamm bildete sich und nur das Fleckchen, auf dem Mutter lag, war noch trocken. Das blieb aber nicht lange so.
Das Gewitter begann erst richtig, schickte jetzt seine Windböen über das Land, die sich in der Plane verfingen. Sie rissen daran und lockerten die Verankerung. Als eine besonders heftige Böe kam, flog die Zeltplane weg und die beiden waren der Naturgewalt schutzlos ausgeliefert.
Mutter schrie ihre Schmerzen in den Sturm, als ich mich anschickte, sie zu verlassen. Blitzte zuckten über den ganzen Himmel und erleuchtete die Szene. Mutter war inzwischen durchnässt, doch das spürte sie nicht mehr, alleine meine Geburt, war in ihrer Wahrnehmung. Mit letzter Kraft presste sie mich aus ihrem Bauch, und wenn ich nicht von der Alten aufgenommen wäre, wäre ich in auf den aufgeweichten Boden gefallen.
In diesem Moment schlug einer der Blitze nur einen Meter neben den beiden ein. Sie konnten das Ozon riechen, was dabei entstand, die Hitze fühlen, die auf sie abstrahlte und die Kraft spüren, die von dieser Entladung ausging. Beide zuckten zusammen und ich tat den ersten Schrei meines Lebens, während der Regen das Blut von meinem Körper wusch.
Mutter war nicht mehr kräftig genug, um meine Geburt lange zu überleben. Die entbehrungsreichen Wochen und Monate hatten sie entkräftet. Sie nahm mich noch einmal in ihre Arme, streichelte mir über den Kopf und küsste mich auf die Stirn. Dann verließen ihre Kräfte. Sie machte ihre Augen zu und öffnete sie nicht mehr. Genau in diesem Moment schlugen ein weiterer Blitz neben uns ein und ich begann, erneut zu schreien. Die Alte hatte erkannt, dass Mutter nicht mehr unter den Lebenden weilte, nahm mich unter ihren durchnässten Umhang und ging so schnell es ging, mit mir weg.
Dies sind also die Umstände, warum ich diesen Namen trage. Man hat es mir jedenfalls so erzählt. Ob es richtig ist oder nur eine Geschichte, kann ich nicht sagen!“
Während Asifa erzählte, hatte auch ich die Augen geschlossen und sah alles wie bei einem Film vor mir. Nur widerwillig öffnete ich meine Augen und blinzelte in einen Sonnenstrahl, der sich an einen Ast der Eibe vorbeigemogelt hatte. Ich war von der Geschichte beeindruckt, obwohl ich mir vieles nicht vorstellen konnte. Alleine der Umstand, dass Asifas Mutter verkauft worden sein sollte, bereitetet mir Bauchschmerzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass etwas Vergleichbares in den letzten fünfzig Jahren geschehen sein konnte. Selbst die letzten hundert Jahre nicht. Aber ich kannte mich im arabischen Raum nicht aus, konnte nicht gegen die Behauptung angehen, dass es nicht möglich sein könnte. Man hatte schon viel gehört über Frauen, die eine bestimmte Anzahl von Kamelen wert sein sollten. Ob alles ein Scherz, ein Witz war, konnte ich nicht sagen.
Was mich allerdings am meisten interessierte war, wie es in ihrem Leben weitergegangen war, und vor allem, was ich damit zu tun hatte. Es ergab keinen Sinn. Gut, ich kannte meine Eltern nicht. Meine Mutter oder irgendwer anderes hatte mich klassisch in einem Körbchen vor einem Krankenhaus ausgesetzt und das im Winter. Dabei aber nicht bedacht, dass das Krankenhaus keine Aufnahme hatte und ein kurzer aber heftiger Schneesturm anrollte. Daher der Verkehr in und aus dem Krankenhaus gering. Ich musste lange dort gestanden haben, denn als man mich fand, lag bereits ein Haufen Schnee auf meiner Decke, nur noch mein Köpfchen schaute heraus. Es war ein kleines Wunder, dass ich überlebt hatte. Allerdings hatte gerade der Schnee begünstigt, dass ich überlebte. Er wirkte wie eine Isolierung. Nicht umsonst war es in einem Iglu um einiges wärmer als draußen. Schnee und Eis dämmte extrem, und wenn man nur eine Kerze anmachte, stieg die Temperatur merklich.
In meinem Korb fand man einen handbeschrienen Zettel, der aufgrund der Schriftart, einer Frau zugeordnet werden konnte. Vielleicht meiner Mutter. Darauf stand, dass ich Ralf heißen würde und dass es meiner Mutter unmöglich sein würde, mich zu behalten. Dabei drückte sie sich nicht genauer aus, welcher Grund sie dazu veranlasst hatte. War es das Geld oder ein anderer Grund. Ich werde es wohl niemals erfahren, denn meine Mutter wurde nicht gefunden. Ich wuchs zuerst in einer Pflegefamilie auf, aber nur, bis ich drei wurde. Dann wurde ich abgegeben, weil die Pflegefamilie mich nicht mehr haben wollte. Auch sie gaben keinen Grund an, nur dass sie mit mir nichts mehr zu tun haben wollten. Später bekam ich heraus, dass eines ihrer eigenen Kinder kurz vor meiner Abgabe verstorben war. Allerdings gab man mir keine Auskunft darüber, warum.
Den Rest der Zeit, verbrachte ich in einem Heim, bis ich volljährig war und meiner eigenen Wege ging. Es war für mich eine ruhige Zeit gewesen, obwohl es in dem Heim teilweise drunter und drüber ging. Die anderen Kinder drangsalierten sich gegenseitig, wer hier nicht stark genug war, wurde runtergemacht. Aus einem mir nicht erfindlichem Grund, blieb ich unbehelligt. Sie machten einen Bogen um mich herum. Dabei kann ich mich noch daran erinnern, dass einer der größeren Jungen versuchte, mir etwas wegzunehmen. Er schaffte es auch, aber da es mir nicht wichtig war, sah ich ihn nur drohend an. Mehr konnte ich nicht tun. Er war mir körperlich überlegen.
Einen Tag später wurde er in den Keller geschickt, um ein Werkzeug zu holen. Als er vor dem Regal stand, rutschte er auf einer kleinen Pfütze Öl aus, die aus einer umgefallenen Dose herausgetropft war. Er ruderte mit den Armen, und während er fiel, versuchte er sich an dem Regal festzuhalten. Doch er griff daneben und erwischte den Stiel von einem Beil, welcher herausragte. Er bemerkte, dass dieser nicht taugte, sich daran festzuhalten. Also ließ er sofort los, um sich erneut am Regal festzuhalten. Es gelang ihm auch, allerdings war das Beil so nah an den Rand gerutscht, dass es bei der erneuten Erschütterung des Regals herunterfiel. Die Klinge traf seine Schuhspitze, schnitt tief hinein und trenne den großen Zeh ab. Sein Schrei gellte durch das gesamte Gebäude.
Einer der anderen Jungen, hatte meinen Blick beobachtet, den ich einen Tag zuvor gegen den Jungen angewandt hatte. Er selber war etwas komisch und die anderen im Heim mochten ihn nicht sonderlich. Aber er erzählte jedem, ob derjenige es hören wollte oder nicht, dass ich den bösen Blick hätte. Das reichte, dass sie mich zukünftig in Ruhe ließen.
Jetzt war ich die ganze Zeit alleine. Daher entdeckte ich schon früh die Lust am Schreiben, verlor mich in den Welten, die ich selber erfand. Dies brachte mich später dazu, daraus meinen Beruf zu machen. Genau das, was ich brauchte. Ich war damit zufrieden, war mein eigener Herr, war von niemandem abhängig. Gut, nicht vollkommen, doch mein Verlag gab mir die Möglichkeit, relativ frei zu schreiben, da der Erfolg meiner Bücher nicht ausblieb. Keine Bestseller, aber eine solide Einnahmequelle für meinen Verlag und mich.
Über alle diese Geschehnisse, hatte ich mir in den letzten Jahren, nur noch selten Gedanken gemacht. Jetzt und hier kamen sie mir wieder in den Sinn und es wundert mich, dass ich sie verdrängt hatte und ausgerechnet jetzt hervorbrachen. Anscheinend hatte mich Asifas Geschichten dazu gebracht, über mich selber nachzudenken.
„Ich merke, du bist gerade dabei etwas zu überlegen. Willst du es mir erzählen?“
Ich wachte wie aus einem Traum auf und sah Asifa einen Moment an, als wenn ich nicht genau gewusst hätte, wo ich mich befand. Dabei hörte ich ihrer Frage, aber verstand sie nicht gleich. Doch dann drangen ihre Worte in mich ein und ich begann, ihr meine Geschichten zu erzählen. Einfach so, ohne mir darüber Gedanken zu machen, dass ich sie kaum kannte. Immerhin hatte sie mir ihre Geschichte erzählt und ich hielt es für fair, ihr meine zu erzählen.
Sie saß da, hörte mir aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen, nickte nur mehrmals mit dem Kopf, als wenn sie mich gut verstand. Es war ein wissendes Nicken.
„Ich habe es mir schon gedacht, dass etwas in deiner Kindheit gewesen sein muss!“, begann Asifa von Neuem, als ich mit meiner Geschichte geendet hatte. „Es wäre seltsam gewesen, wenn deine Kindheit normal verlaufen wäre. Du bist dir die ganze Zeit über, nicht bewusst gewesen, was in dir schlummert. Vielleicht kann ich dir helfen, dieses Verborgene herauszuholen. Aber nur wenn du willst. Für die einen ist es eine Bürde, für andere eine Befreiung. Damit umgehen, musst du selber!“
Inzwischen war mir alles egal. Ich sah Asifa nur einmal an und meinte in ihren Augen einen Glanz zu erkennen, der zuvor noch nicht da gewesen war.
„Noch etwas Tee?“, fragte sie auf einmal, ohne dass ich ansatzweise damit gerechnet hatte. Ich schüttelte einmal meinen Kopf, als wenn ich Müdigkeit daraus vertreiben wollte, und meinte nebenbei: „Gerne!“
Asifa nahm die Kanne, füllte meine Tasse erneut auf und ließ wie selbstverständlich einen Würfel Zucker hineinfallen. Wahrscheinlich hatte sie mich zuvor beobachtet und sich gemerkt, dass ich auch dort einen genommen hatte.
„Komme morgen wieder, bringe etwas Zeit mit und ich werde versuchen, den Bann zu brechen, der deine Kraft verborgen hält!“
„Ich habe nichts weiter vor und komme gerne!“, antwortet ich und Asifa stand auf und ging in ihren Wohnwagen. Als die Tür zuschlug, wusste ich innerlich, dass ich sie an diesem Tag nicht mehr wiedersehen würde. Trotzdem trank ich noch meine Tasse Tee leer. Er schmeckte gut und ich hatte Durst. Samira sah ich den Tag nicht.




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