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Nettis Haus

Als es mal wollt‘ spazierengehn,
da flog es durch die Wolken.
„Oh“, rief es, „Hier ist’s aber schön!“
Und sah die Berge, Wälder, Seen,
„Das also ist der Himmel!“
Derweil war nur in seinem Land
Das Gravitationsgesetz unbekannt…..

Die Frau hielt mir den Quader mit ihrer runzeligen Klaue dicht vor die Augen. Der Kristall hatte die Farbe eines Gewitterhimmels. Ihre langen, gelben Fingernägel kratzten über die Oberfläche, die sich an den Stellen, die ihre Warzen berührt hatten, immer weiter aufklarte,- ganz so, als seien es tatsächlich Wolken an einem Himmel,
der nun eine in dem Kristall eingeschlossene eigene Welt feigab. Ich sah ein Haus. Das Haus stand inmitten eines seltsam aussehenden Gartens. Vereinzelt sah man noch die Reste eines schmiedeeisernen verschnörkelten Gartenzauns, teilweise verdeckt von großen Bäumen und wild wuchernden Büschen. Das Wort „wild“ bekam im Bezug auf diese Gewächse für mich eine neue Dimension: Bei diesen „Büschen“ war es mir einfach nicht klar, ob es sich dabei um Pflanzen oder eine etwas mobilere Spezies handelte. Sie sahen aus, als bewachten sie das Haus und lauerten jedem unvorsichtigen Wesen, das sich in ihre Nähe wagte auf, um ihm schreckliches anzutun.
Und sie schienen mich wahrzunehmen. Ich war schadenfroh genug, mich ihnen überlegen zu fühlen…..Sie waren eingesperrt in diesem Kristallquadrat, mochten sie verhungern oder sich gegenseitig auffressen,-
mir konnte das ja egal sein! Rechts vom Haus führte eine blaue Freitreppe, welche sehr breit begann und dann schmaler wurde, in elegantem Bogen nach oben. Unten wurde sie noch von einer niedrigen Mauer begrenzt, welche sich aber nach oben hin verlor. Eine Kristallkugel auf jeder Seite schmückte den Beginn derselben. Auf halber Höhe teilte sich die Treppe. In einer scharfen Kurve nach links verband sie sich mit einer kleinen Terrasse am oberen Stockwerk des Hauses, welche auf zwei zierlichen Stützen ruhte. Der andere Teil führte in leichten Schwüngen in
den hinteren Teil des Gartens und endete an einem Laubengang, der mit lila blühenden Ranken bewachsen war.
Die Kugeln am unteren Ende der Treppe weckten sofort meine Aufmerksamkeit in dieser ohnehin sehr bemerkenswerten Landschaft. Sie hatten die anfängliche Färbung des Kristallquaders, der jenes Universum einschloss, welche sich inzwischen aber an die „hintere“ Seite, dorthin, wo er von der Hand der Alten umfangen wurde, zurückgezogen hatte. Je länger ich diese Kristallkugeln betrachtete, desto mehr bekam ich den Eindruck, sie stünden mit dem Quader in einer irgendwie unwahren Verbindung. Anders kann ich es nicht erklären, dieser Quader war, wie die Kugeln, realistischer als sie für mich hätten sein dürfen. Zwar konnte ich in den Kugeln nichts erkennen, als eine grauschwarzviolette Färbung, doch bewegte diese Oberfläcche sich wie eine Wolkendecke und ich erwartete schon fast, daß nun eine Frau die Treppe herunterkommen und mir mit ihrer runzeligen Klaue
eine der Kugeln entgegenhalten würde…..

Im Grunde sah ich nichts als eine äußerst interessante Art „Schneekugel“ , doch je länger ich in jenen Kristallquader blickte, desto mehr verwandelte sich mein anfängliches Gefühl der Sicherheit in Faszination. Dieses Universum fesselte meine Aufmerksamkeit so sehr, daß ich alles um mich herum vergaß. Es schien mich
durch meine Aufmerksamkeit immer mehr in sich hineinzusaugen, ganz allmählich….. Meine Mutter hätte meine Empfindungen vielleicht auf meine Jugend,- ich war damals gerade 55 Jahre alt,- und auf meine ganz besonders lebhafte Fantasie zurückgeführt. Doch auch wenn ich mich heute, über 300 Jahre später, an jene Erlebnisse erinnere, weiß ich, ganz tief in meinem Herzen, daß nichts von all dem, was ich damals erlebte, nur die ausgedachte Spinnerei
eines etwas verrückten großen Kindes war. All das entsprang zwar meiner Fantasie, doch es wurde wahr, es wurde zu meiner Geschichte, die mein weiteres Leben tief prägen sollte.

Das Haus selbst war aus gelben Ziegeln gemauert, mit Kanten aus knallroten Holzpfosten. Eine Hälfte, dort, wo die Terrasse anstieß, besaß ein Dach aus blauem Stroh. Eine ebenfalls blaue Tür und ein Fenster mit rotem Rahmen befanden sich auch auf dieser Seite. Die andere Hälfte des Hauses zeichnete ein klaffendes Loch im Mauerwerk aus, durch das man den Innenraum sehen konnte. In dessen Mitte stand ein riesiger alter Baum und ersetzte dort mit einer weit ausladenden Krone das Dach. Seine Wurzeln schoben sich unter den Hausmauern durch nach außen und hatten wohl auch das Loch an der Vorderseite verursacht. Täuschte ich mich- oder hatte der Baum ein Gesicht? Er mich anzulächeln, obwohl ich, so sehr ich mich auch bemühte, keine Mimik oder etwas mit einem menschlichen
Antlitz Vergleichbares erkennen konnte. Er schien das ganze Gebäude zu beleben, war eins mit ihm, und so unheimlich mir die Landschaft drumherum war, so einladend schien dieses Haus. Es kam mir vor, als hätte eine sehr fantasiebegabte Natur hier mit Bauklötzen ein Idyll errichtet.
An der linken Hausseite befand sich eine Art Abfluss in der Mauer, dessen Wasser in einer aus großen Platten gelegten Spirale mündete und im Boden verschwand. Die Herkunft des Wassers lag außerhalb des Blickfeldes, hinter
den Hügeln am Horizont, von wo es über eine Art Viadukt zum Haus geleitet wurde. Ins Haus gelangte es als kleiner Wasserfall über die Oberkante der Hausmauer. Kleine Bäume in den verschiedensten Formen und mit teilweise obskuren Wuchsrichtungen gab es in dem Garten. Man hätte meinen können, sie seien von mehreren Sonnen gleichzeitig bestrahlt und hin und her gezerrt worden. Seltsame Gegenstände, deren Funktion ich nicth genau bestimmen konnte, lagen und standen überall herum: lange und kurze, dickere und dünne Röhren; ungewöhnlich große, aber anscheinend leere Schneckenhäuser, Steine, die wie Eiswürfel aussahen…..Die Bewohner jedoch suchte man vergebens, sie waren wohl gerade nicht zu Hause.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich nun schon in diese Welt hineinblickte. Obwohl eigentlich keine Veränderungen stattfanden, schien alles in ständiger lebendiger Bewegung begriffen, die mir teils unheimlich, andererseits aber
für diese Umgebung absolut logisch vorkam. Da bewegte sich etwas am Fuße der Hügel. Es sah aus, als fließe der Himmel- oder war es nur dessen Färbung?- mitten in die Landschaft. Eine nebelartige Masse verdichtete sich gerade so weit, daß man durch sie hindurch noch die Umrisse der Umgebung wahrnahm, welche in unwirklichen Farbnuancen regelrecht zu leuchten schienen. Mangels passenderer Vergleiche würde ich den „Nebel“ mit einer „Wolke“ aus Schwarzlicht vergleichen, die immer größer wurde. Sie bewegte sich auf mich zu, streckte sich nach mir aus, schien mich zu rufen! Ich spürte meinen Körper nicht mehr, hatte das Gefühl, nur noch aus Augen zu bestehen. Wurde seltsam willenlos. Der Nebel schien sich in mir weiter auszubreiten, seine Welt in meinen Körper auszuweiten! Die Kristallkugeln an der Treppe bewegten sich immer stärker, erwachten zum Leben, schienen zu atmen. „Komm zu uns!“ flüsterte etwas mit vielen Stimmen, die sanft und verlockend durch meinen Kopf tönten. In diesem Augenblick riß die Frau den Kristall hinter ihren Rücken. Ich fühlte einen Schmerz, als würde mir ein Teil meines Gehirns mitsamt
den Augen abgerissen! Ich schrie auf und kauerte mich hin. Mein Herz jagte wild, es samdte Stiche durch meinen ganzen Körper, ich sah nichts als dunkel leuchtenden Nebel, der sich in mir zu drehen schien. Der Stimmenchor schwoll an und klang immer schriller und völlig dissonant, ich verstand nichts und doch alles- der Nebel war wütend! Um ein Haar hätte er mich gehabt…..Nur allmählich kam ich wieder zu mir. “ Hörst du mich? Komm zu Dir!“ Das war die Stimme der Alten. Sie klang rauchig und sanft, jedoch sehr bestimmt. „Wache jetzt auf!“ Der Nebel begann sich zu lichten. Ich lag auf etwas Weichem und sah in das vom Schein des Kaminfeuers erhellte Gesicht, das mir mit einemmal unsagbar hässlich schien. Ich wußte weder, wer sie noch wo ich war, ich hatte vollkommen die Orientierung verloren. Die Frau war von unschätzbarem Alter, jedoch eindeutig nicht mehr jung. Überall dort, wo ihre Haut nicht von Fellen, Häuten oder Schmuck bedeckt war, sah ich kleinere und größere Warzen, die ihre grünlici- braune Haut bedeckten. „Warum bist du so häßlich?“ ging mir durch den Kopf, während ich mich im selben Augenblick schon für den Gedanken schämte, denn ihr sanftes Lächeln, das ihres unglaublich breiten Mundes wegen die gesamte untere Gesichtshälfte beherrschte, machte mir klar, daß ich meinen Gedanken wohl laut ausgesprochen haben mußte. „Laß nur,“ wiegelte sie meinen kläglichen Versuch, mich zu entschuldigen ab, „für seine Gefühle darf man sich niemals schämen. Du hast Entzugserscheinungen. Um ein Haar hätte der violette Kristall Dich gefangen. Du scheinst auf ihn besonders sensibel zu reagieren, das wußte ich nicht. Aber nun möchte ich Dir Deine Frage beantworten. Du siehst mich mit deinen Augen, empfindest mich mit deinem Herzen als häßlich, nachdem Du in deinen Kristall gesehen hast. Deine Wahrnehmung ist ein Erzeugnis deiner Seele, wie du wissen musst. Und Erzeugnisse einer Welt der Seele sind immer hässlich vor Schönheit und schön vor Hässlichkeit, das ist die Regel. Warum das so ist, kann ich Dir auch nicht sagen, ich habe die Welt nicht erfunden. Der Erfinder wird geistig recht verwirrt gewesen sein, dafür spricht alles. Aber das wirst Du mit den Jahren schon noch selbst herausfinden.“ Während dieser Worte hatte sie mir einen Lappen, auf die Stirn gelegt und einige stinkende Kräuter ins Feuer geworfen. Ich musste husten. Diese Anstrengung brachte mich wieder voll in die Realität zurück. Munter sah ich mich in dem Raum um und setzte mich auf. Sie drehte mir den Rücken zu und ich hörte das Scharren von Kristall auf Kristall. Als sie sich mir wieder
zuwandte, war der faszinierende Quader verschwunden. „Hallo Satyra. Na, wie gehts Dir?“ Mit ihrer Stimme verschwand die Erinnerung an das gerade erlebte mehr und mehr. Trotzdem hatte ich keine Orientierung. Wo war ich hier? Wer war denn nun dieses Wesen? Warum war ich hier, und wie lange schon? Wo war meine Mutter? Verwirrt sah ich mich um. Der Raum war nicht besonders hoch und hatte eine gewölbte Decke. Die Wände bestanden aus Quadern, aus einem mir unbekannten Material. Sie leuchteten sanft in den verschiedensten Farben. Ich befand mich gegenüber von einem Kamin, der beinahe die gesamte Breite des Raumes ausmachte. Es gab weder Tür noch Fenster. Die Frau kam mir seltsam vertraut vor, obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Überhaupt hatte ich irgendwie den Eindruck, gerade in diesem Moment erst real geworden zu sein. Doch vermochte ich all das nicht in Worte zu fassen. Die Frau ( woher wusste ich eigentlich, was eine „Frau“ war?) setzte sich mir gegenüber hin und reichte mir einen Becher. „Trink vorsichtig, es ist noch sehr heiß! Inzwischen will ich
versuchen, Dir zu erklären, was ich weiß.“

II

„ES IST WEG!!!“ Der Ruf wurde von unzähligen Kehlen wiederholt und brachte die vor dem Tempel versammelte
Menge in Aufruhr. Schon begannen die ersten Männer, sich rücksichtslos an Frauen und Kindern vorbei zum Hohepriester vorzudrängen. Von den Bergen erschollen Signalhörner. „Alle Männer zu mir!“ tönte die Stimme
des Priesters durch das allgemeine Durcheinander. „Die Göttin wird unsagbar erzürnt sein, wenn sie das Opfer
nicht zur festgesetzten Stunde auf dem Altar vorfindet! Wir müssen alles tun, um sie zu versöhnen!“ Inzwischen
hatten sich die meisten Männer vorn eingefunden. Die Frauen drückten verängstigt ihre Kinder an sich. Sie ahnten
Unheil. „Besänftigung der Göttin“ bedeutete hierzulande nichts anderes als Menschenopfer. Für würdig schienen
jedoch stets nur Kinder befunden zu werden, was die wachsende Unruhe unter der Menge der Mütter erklärte. Doch wagte keine, sich abzuwenden. Die Rache der Göttin würde schrecklich sein! Bisher waren sie immer davon verschont geblieben, doch dies würde sich ganz sicher ändern, sobald das allwöchentliche Opfer ausbliebe.
In letzter Zeit war die Gier der Göttin immer größer geworden. Ursprünglich hatte jede Familie zu den üblichen Jahresfesten je einen Teil ihrer Ernte und des hinzugewonnenen Hausrates dargebracht. Doch in den letzten Jahren
verkündete der Hohepriester regelmäßig, die Göttin habe ihm offenbart, sie verlange mehr und mehr, erst forderte sie Hühner, dann Lämmer, Kälber und schließlich hatte der Hohepriester vor 3 Jahren verkündet, nur das Leben eines an den Opfertagen geborenen Kindes vermöge noch länger, die Göttin gnädig zu stimmen. Es wurde ausgelost, welche Frau mit ihrem Mann zu welchem Zeitpunkt ein Kind zu zeugen und auszutragen hatte. Jene Rasse hatte eine großartige Kontrolle über ihren Körper. Die Opfertage jedoch häuften sich mehr und mehr, bald mußte aller drei Monate, dann aller vier Wochen geopfert werden. Inzwischen hatte die Göttin durch den Mund ihres Priesters verkündet, sie verlange jeden Freitag ein Kind. Das Volk war nicht klein, es bestand aus mehr als 10000 Familien, doch diese Forderung vermochte man auf die Dauer nicht zu erfüllen. Seit einem halben Jahr ging das nun schon so, längst hatte man ältere Kinder, die nie dafür vorgesehen gewesen waren, zum Opferaltar geführt. Sie waren Donnerstag abends von den Unterpriestern abgeholt worden und nie wieder gesehen worden. Niemand aus dem einfachen Volk war je bei einer Opferzeremonie zugegen gewesen. Es hieß, die Göttin selbst materialisiere sich während des priesterlichen Rituals im Tempel, nehme die Gaben an sich und verkünde ihren weiteren Willen.
Da die Vorstellungskraft der Bauern aber nicht so weit reichte, nahm man allgemein an, daß der Priester die Kinder schlachtete, ihre Seelen in das unsterbliche göttliche Reich zu bringen. So war die Unruhe der Mütter und älteren Kinder nur allzu verständlich. „Die Unterpriester ziehen sich mit mir zur Beratung zurück! Die Männer bilden Suchtrupps, die Frauen bleiben vor dem Palast!“ bestimmte der Hohepriester inzwischen. Hastig wurde seinen Anordnugnen Folge geleistet.
Wieder erklangen Hörner rings von den Bergen. Der Führer der Stadtwache erklomm das Rednerpult. „Die Wache wird eingeteilt in Trupps von je 10 Mann, denen 10 Mann aus dem Volk beigestellt sind! 1. bis 4. Trupp ohne Begleitung, Flugsalamander,- ab! „Kallisti!“ riefen die Männer, die den anstrengenden Ritt auf den fliegenden Reptilien antreten sollten, wofür unbedingt eine Spezialausbildung notwendig war. Mit spätestens 30 Jahren musste ein junger Rekrut diese Ausbildung beginnen, damit der Körper sich noch an diese besondere Anstrengung gewöhnen konnte. Außerdem wurden die nur sehr kräftige Männer angenommen, denn obwohl die Tiere schmal und leichtknochig waren, verfügten sie über eine unglaubliche Kraft; Schnelligkeit und Zähigkeit; ein schlanker oder auch normal gebauter Mann wäre von einem scheuenden Flugsalamander vielleicht bis ans Himmelsgwölbe getragen und von dort fallengelassen worden, oder ein Salamander wäre mit ihm in Überschallgeschwindigkeit über die ganze Welt gerast, hätte ihn vielleicht in einem Vulkan abgesetzt…..Das häßliche Kreischen der Kreaturen schallte schon durch die Luft, mischte sich mit den tierähnlichen Antriebslauten der Reiter.
„Bodensuchtruppen einteilen!“ erklang es nun. Die Wachen sammelten Zivilisten zusammen. „Sucht überall nach verdächtigen Personen! Verdächtig sind besonders junge Frauen, aber es wird jeder angehalten und durchsucht! Im Namen der Göttin! Findet das Kind!!!!! Heil Eris!“ „All Hail Diskordia!!!!!“
Durch das Gewimmel drängelte sich eine stattliche, in auffällig bunte Gewänder gekleidete Frau, deren durch-
dringende, volle Stimme Aufsehen erregte. „Wachtmeister! Hört mich an! Ruft den Hohepriester, ich muß ihn dringend sprechen!!!!!“ „Hört nicht auf sie!“ piepste hinter ihr ein Männlein den sich umdrehenden Menschen entgegen. Sie hat wieder von dem Wasser aus der Bergquelle getrunken…..sie halluziniert…weiß nicht, was sie sagt……Die beiden zusammen erregten noch erheblich mehr Aufsehen, denn das spillerige Männlein mit dem graublauen Spitzbart hatte sich irgendwie in den Rücken der Frau gekrallt und mußte sich nun, um überhaupt hinterherzukommen, tragen lassen. Dabei berührten die krummen Beine den Boden überhaupt nicht, was das Männlein nicht daran hinderte, kräftig um sich zu treten. Amüsiert teilte sich die Menge. Zu dieser schweren Stunde war außer diesem verrückten Pärchen niemand darauf aus, näher als unbedingt nötig an den Tempel und in die Nähe des zornigen Hohepriesters und seiner Göttin zu kommen. Auch der Wachtmeister mußte sich das Grinsen verkneifen. „Was ist Euer Begehr, Weib?“ wandte er sich an die Frau. Die rang schnaufend nach Atem. Hinter ihr krähte das Männlein. „Ich warne Euch, mein Weib spricht im Wahne! Sie ist nicht bei Sinnen! Sie hat aus der Bergquelle getrunken, und nun meint sie…..“ „Wer spricht da ohne meine Erlaubnis!“ rief der Wachtmeister. Und ohne sich vorzustellen?“ „Gestatten…“ piepte es, und mit Hilfe einiger hinter ihm stehender Bengels erkletterte das Männlein die Schultern der Frau. Mein Name ist Valius, ich bin ein einfacher Flachsbauer. Dies ist meine Frau Vaseline. Wie schon gesagt, sie hat Wahnvorstellungen, daher das Theater… „Komm“ schnurrte er und klopfte Vaseline den Kopf wie einem Flugsalamander. Der Wachtmeister konnte sich an dem grotesken Schauspiel kaum sattsehen. Was die beiden wollten, interessierte ihn eigentlich nicht. Aber dieser Anblick… einfach göttlich!
„Ach, red nicht solchen Schwachsinn, VOLLTROTTEL!“ grölte sie und schwang ihren Arm über den Kopf, um ihn abzuwerfen. Doch das Männlein schien geübt und klammerte sich nur noch mehr fest. „Soso, Volltrottel? In deiner Gesellschaft bleibt einem ja nichts anderes übrig, als geistig völlig zu verdumpfen…“ „DAS IST GENUG!“ die Frau kreischte so, daß man kaum noch einzelne Worte verstehen konnte. Sie schlug mit ihren Armen um sich, schüttelte sich, doch das Männlein klammerte sich fest, riß ihr Haarbüschel aus und meckerte vor sich hin.- In diesem Augenblick donnerte es.- Dann begann der Regen.
Sofort beruhigte man sich. Es rauschte so stark vom Himmel, daß die Menge in Sekundenschnelle durchnässt war.
Auf dem Gesicht der Frau, die sich gerade auf den Boden geworfen hatte, breitete sich ein irgendwie blöder Ausdruck aus, sie shcien völlig vergessen zu haben, was gerade gewesen war, ja, sie wirkte mit einem Mal völlig gleichgültig. Das Männchen starrte sie noch einen Augenblick angriffslustig an und begann: „Genau das hasse ich so, ich will…..“ dann blieb sein Mund offen stehen und er blieb auf seiner Frau knieen, die mit leerem Ausdruck genau in den Platzregen blickte. Nur der Wachtmeister, der unter dem Tempelvordach gestanden hatte, registrierte, wie sich das Volk in eine Herde stumpfsinnigen Viehs verwandelte. So war es immer, der Regen bewirkte dies. Den Regen hatte sicher die Göttin gesandt,- aus Rache wegen des fehlenden Opfers und- er strafte sich im Geist für den ketzerischen Gedanken- um das Volk gefügig zu halten! Die Wirkung des Wassers ließ natürlich nie ganz nach, da jeder damit täglich mehrmals in Berührung kam. Hatte man kein Bier( bei dem durch den Brauvorgang und spezielle Zusätze aus Kräutern die betäubende Wirkung des Wassers gelindert wurde,) war man gezwungen, aus dem Bach oder einem Brunnen zu trinken. Die Wirkung war unterschiedlich stark, doch waren alle gemeinen Bauern und Arbeiter stark wassersüchtig. Nur Wache und Priesterschaft vermochten sich vor den Auswirkungen des Wassers zu schützen, indem sie es mieden, wo sie konnten. So konnte sich ein Mitglied der Wache stets durch seine erhöhte Aufmerksamkeit und einen durchdringenden Gestank ausweisen. Am weitesten roch man den Hohepriester als ältesten Mann des Volkes.

Der Wachtmeister wußte, daß er nun nichts weiter mehr zu tun hatte, als abzuwarten. Was die Frau hatte sagen wollen, würde man frühestens in 7 Stunden wieder einigermaßen verständlich aus ihr herausbekommen. Gelangweilt
drehte er sich zum Eingang des Tempels, durch dessen Eingang er Sprechgesang hörte. Dann ein gurgelnder Laut- das gehörte zum Ritual,- dann vielstimmiges Geschrei, das immer lauter wurde…was war das? Es war ihm bei höchst unangenehmer Bestrafung untersagt, je ein Ritual zu unterbrechen. So lauschte er neugierig und hilflos dem Geschehen. Das Geschrei formierte sich zu einem völlig schiefen Gesang. Dann eine einzelne Stimme. Der Hohepriester. Er wurde unterbrochen von einem Ton, der selbst die träge Masse zusammenfahren ließ! Erst, als es verstummt war, realisierte er, daß dies eine weibliche Stimme gewesen war. Und er wußte nun ganz sicher: Die Göttin war im Tempel. Angst überkam ihn! Drinnen schienen Verhandlungen stattzufinden. Er wollte auf einmal garnichts mehr wissen, stolperte in den nachlassenden Regen hinaus, streckte sein Gesicht in die Luft und öffnete den Mund…..

111

Im Tempel standen zitternd die Priester. Es war wirklich geschehen! Die Göttin….. sie war tatsächlich da! Niemand außer dem dummen Volk hatte je ernshaft an sie geglaubt, doch da stand sie! Lässig und doch anmutig , ein Bein angewinkelt, mit der Linken den goldenen Apfel in die Luft werfend und wieder auffangend- und sie hatte einen Gesichtsausdruck, den man wahrhaft ungöttlich als unverschämtes Grinsen bezeichnen konnte. Ihre Stimme schien das ganze Land zu übertönen. „Hi!“ rief sie. (Nie zuvor waren in jenen ehrwürdigen Hallen respektlosere Worte gesprochen worden) „Na, Ihr alten Säcke?“( die Priester erblassten bei der Anstrengung, nicht empört zu sein). Einige taumelten, nur der Hohepriester hielt stand, als stünde er im Auge eines Orkans. Und genau genommen fühlte es sich so an…..Denn er kniete ja auf dem goldenen, karottenförmigen Altar, welcher in der Mitte des Pentagons stand, an dessen Enden je einer der Tempelpriester seinen Platz eingenommen hatte. Auf den Altar hätte zu dieser Stunde ja das Opferkind gehört. Der Hohepriester ließ sonst stets die anderen die Arbeit des Rituals machen, hielt sich im Hintergrund, um, wie die anderen glaubten, alles zu beaufsichtigen. Da er das Ritual konzipiert hatte, war den ausführenden Priestern für den Augenblick der göttlichen Materialisierung vorgeschrieben, daß sie mit geschlossenen Augen auf die Knie sinken sollten,- womit sein großer Augenblick kam, in dem er sich zum Altar schlich, das Kind nahm und es der am Hinterausgang wartenden Kinderfrau brachte, die es auf geheimen Wegen fortschaffte…..Der Hohepriester kam sich sehr genial vor und meinte, niemand durchschaue ihn. Er fühlte sich allmächtig, und mit jeder neuen Forderung, die er verkündete, spürte er seine „Allmacht“ größer und größer werden…
Dem Wahn schon derart verfallen, nahm er von den Gerüchten und geflüsterten Gesprächen seiner Tempelpriester überhaupt keine Notiz mehr, bemerkte nicht, wie sie sich insgeheim über ihn lustig machten und hatte nicht die geringste Ahnung, daß sie alle bescheid wußten über sein „Geheimnis“. Nur wohin die Kinder gebracht wurden, war ihnen lange Zeit ein Rätsel gewesen, bis einer die stark wassersüchtige Botin einmal an einem Wegesrand im Wald aufgegabelt und alles aus ihr herausgepresst hatte…
Doch da aus diesen Geschichten keiner der Eingeweihten einen Nachteil hatte, spielten sie alle brav mit und ließen den Hohepriester in dem Glauben, der einzig Wissende in einem Volk von gutgläubigen Opferlämmern zu sein.

Doch vor etwa 2 Minuten war nun ihrer aller Weltbild zusammengebrochen. Mitten im Hohepriester hatte sich, in eben dem Augenblick, da das Ritual seinen Höhepunkt erreicht hatte, die Göttin manifestiert. Sie sprach weiter:
„Was glotzt ihr so! Noch nie ne Göttin gesehen? Alte Sexisten!“ und sie hob provokant das linke Bein an, das Gewand glitt an ihrem Oberschenkel ab….. Die Priester standen alle mit herabgesunkenen Kinnladen, sabberten,- und ausnahmslos hatten alle, ohne es zu bemerken, eine Hand vor ihren Schritt genommen. Der Hohepriester war aufgrund seiner noch wesentlich deutlicheren Aussicht dabei, das Bewusstsein zu verlieren. „Hey, eigentlich wollte ich mich noch ein bischen mit dir unterhalten!“ rief sie ärgerlich. Kann mir hier mal jemand erklären, warum und wozu ihr mich gerufen habt, wenn dann gar keiner was will?“ „Heil Dir, oh Eris, schönste und klügste aller Göttinnen!“ erhob der jüngste der Tempelpriester seine Stimme. Er hatte sich am schnellsten wieder gefangen, bei ihm war der letzte Sex noch nicht so lange her, daß er sich nicht daran hätte erinnern können…..“Jaja, ich weiß selbst, wer ich für euch Trottel bin!“ unterbrach sie ihn ungehalten. „Verzeih meine unwürdige Rede!“ piepste der Priester. „Schon gut! Übrigens: Eure Aktion mit den Kindern…“ „Eris vergib uns! Wir haben gesündigt! Strafe uns alle mit dem Feuertod!!!“ und er warf sich bei diesen Worten nieder und wälzte sich am Boden. Da fand ein älterer Priester seine Stimme wieder. Er flüsterte mit vorgehaltener Hand: „Bist du wahnsinnig? Bettle gefälligst für dich allein um Strafe!“ Die Göttin hatte interessiert zugesehen und fühlte sich veranlasst, hierzu etwas zu sagen: „Also, Kleiner, da muß ich ihm Recht geben. Wenn du unbedingt sterben willst, ist das schließlich nur dein Interesse. Du hast doch niemanden hier gefragt, ob er damit einverstanden wäre…..“ grinsend ließ sie weitere Beteuerungen über sich ergehen. „Schade übrigens!“ erwiderte sie. “ Du scheinst hier der einzige halbwegs attraktive Mann zu sein, und ich hatte eigentlich schon mit dem Gedanken gespielt, dich mal zu mir einzuladen…..aber wer nicht will, der hat schon…“ Blass war der junge zurückgewichen. „Aber Eris, wie könnte ich ein solches Angebot abschlagen?“ „Nun, elendes Würmchen, du hast es bereits abgelehnt, indem du um deinen Tod betteltest! Und DU HAST MICH DAMIT WAHNSINNIG ERZÜRNT!!!!!“ Die Schallwelle war so gewaltig, daß sie das Tempeldach davonwehte. Von den nahen Bergen ertönten Schreie und das Poltern von Steinen. Wahrscheinlich waren die Melder von einer Geröllawine überrascht worden…..“Heilige Eris!“ riefen nun mehrere Priester, darunter der Hohepriester. Doch sie war beleidigt und wandte sich dem Ausgang zu. Mit der Menge war etwas erstaunliches geschehen. Man konnte noch immer keineswegs behaupten, die Leute seien nüchtern……aber sie schienen auf Eri’s Stimme zu reagieren. Einige fingen an zu lachen. Andere zuckten beim Schall zusammen, erschraken jedoch nicht etwa.

1V

Sie glaubte sich verfolgt durch das Geräusch ihrer eigenen Schritte. Den halben Tag lief sie schon, ohne innezuhalten, immer tiefer in den düsteren Wald. Erst als die hereinbrechende
Dämmerung ihr die Sicht nahm, wurde ihr Lauf langsamer. Und plötzlich fühlten sich ihre Beine
unglaublich schwer an. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich einen geeigneten Felsvorsprung als
Schutz für die Nacht fand. Erschöpft scharrte sie etwas Laub und Erde zusammen und wickelte sich
und das schlafende Bündel in ihren Armen in den Mantel. Kurz darauf fiel sie in einen leichten,
unruhigen Schlaf.
Schon beim Morgengrauen schreckte sie wieder auf. Sie spürte jeden einzelnen ihrer Muskeln.
Langsam richtete sie sich auf, bemerkte dabei das Kind neben sich, während die Erinnerung an
ihre gestrige Tat mit voller Wucht über sie hereinbrach. Sie brauchte aber nicht lange, um auch
die Notwendigkeit derselben zu realisieren. Hätte sie es nicht getan, wäre es nur eine Frage
der Zeit gewesen, bis sie das kleine Mädchen geholt hätten.
Mit leisem Stöhnen kam sie vollends auf die Füße. So gut es ging, verwischte sie die Spuren
ihres nächtlichen Lagers und machte sich erneut auf den Weg. Im Vorbeigehen leckte sie den Tau
von den Zweigen und benetzte auch die Lippen des Kindes damit. Wieder sah es sie mit seinen
großen, braun- goldenen Augen an, als verstehe es ganz genau, in welcher Gefahr es schwebte.
Eine Welle zärtlicher Fürsorge überflutete sie. Mit großter Klarheit spürte sie: es war das einzig
Richtige gewesen, dieses Kind vor seinem grausamen Schicksal zu retten, ganz gleich, ob sie nun
aus der Gesellschaft ausgestoßen würde…..In einer solchen Gesellschaft wollte sie ohnehin nicht
mehr leben, sie hatte überhaupt keine Wahl gehabt!
Sie ging zielstrebig, obwohl sie nicht wusste, wohin, getrieben von einer unsichtbaren Kraft.

Als sie die Lichtung erreichte, die sie schon aus einiger Entfernung gesehen hatte, spürte sie Erleichterung.
Jedoch stieg mit dem Gefühl, endlich in Sicherheit zu sein, gleichzeitig Unbehagen
in ihr hoch, eine innere Unruhe, kaum wahrnehmbar, doch konnte sie sie nicht verdrängen.
Die Gestalt, die im vor dem Haus liegenden Garten gearbeitet hatte, richtete sich auf und
blickte ihr entgegen. Als sie näher kam, erkannte sie eine ältere Frau in einem wollenen braunen
Hauskleid. Ein blaues Kopftuch bedeckte ihr Haar. Einzelne graumelierte Strähnen hatten sich
darunter gelöst. Ihr Gesicht machte einen von der Arbeit erhitzten Eindruck.
„Da bist du ja endlich!“ sagte sie und lächelte der jungen Frau zu. Fragend und leicht irritiert erwiderte diese
den Blick. „Ich habe dich erwartet. Wie du vielleicht gespürt hast, habe ich dich hergeleitet.
Aber lass uns erst einmal essen, Du bist sicher hungrig. Danach können wir in Ruhe über alles reden.“
Mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, winkte sie der Jüngeren, hinter ihr
in das Haus einzutreten. Die Frau drückte das schlafende Bündel wieder fest an ihre Brust.
Beinahe kam sie sich vor wie eine Verräterin, als sie sich noch einmal mißtrauisch umsah.
Zu Tode erschöpft, wie sie war, nahm sie das Gärtchen nur flüchtig wahr, hier schien keine unmittelbare
Gefahr zu lauern. Die Alte hatte vor einem Kohlbeet gekniet, daneben gediehen Möhren, Erbsen, Bohnen,
Spargel, Kartoffeln, Erdbeeren…..Eine blühende Sommerwiese wurde von mehreren kleinen Obstbäumen
beschattet. Hinter dem Haus, das ihr aus irgend einem Grund merkwürdig schien, musste er weitergehen.
Der Urwald begrenzte die Lichtung wie eine lebendige Mauer, er schien ihr aus der Entfernung weniger bedrohlich,
jedoch keineswegs ungefährlich, gerade so, als bewache er diesen Ort.
„Nun komm schon, Du wirst noch genügend Gelegenheit haben, Dich umzusehen!“ rief es von drinnen.
Sie trat in den unbeleuchteten, aber nicht ganz dunklen Flur. Es schien ihr, als schimmerten die Wände
sanft in verschiedenen Farben. Sie wirkten…lebendig! Gegenüber der Eingangstür des quadratischen Raumes war eine Pforte, hinter welcher sie nach unten führende Treppenstufen wahrnahm, einladend geöffnet.
Ohne weiter nachzudenken, ließ sie sich von der immer stärker werdenden Kraft
hindurch und die Stufen herab ziehen. Das Kind war inzwischen erwacht, weinte nicht, sondern
bewegte seine kleinen Beine ganz so, als spüre es die Macht ebenfalls und müsse ihr gehorchen, selbst,
wenn es keinen Sinn zu haben schien. Dabei kniff es ein wenig die Augen zusammen, drehte den Kopf
hin und her und sah sich um. Es spürte den schnellen Herzschlag seiner Beschützerin, und ihre bei
jedem Schritt fester werdende Umarung. Sein Instinkt war wach und beängstigte es,- doch das
Fremde übertraf selbst die Wachsamkeit seiner Beschützerin und ließ sie beide ruhig bleiben.
Die Treppe führte im Verhältnis zur Größe des Häuschens überraschend weit hinab. Sie ging nun schon
mehr als zehn Minuten den schmucklosen Gang hinunter , der von nichts als glatten, leicht
schimmernden Mauern eingesäumt war, und noch immer hörte sie nichts als den Hall ihrer Schritte und
der der Alten.
Sie hatte den Eindruck, daß irgendetwas mit der Architektur dieses Bauwerkes nicht stimmen konnte,
so, als befinde sie sich in einer Dimension mit völlig verdrehten Perspektiven,- aber was mochte der
Grund dafür sein? Ihre Erschöpfung überschttete jedoch alle Fragen. „Geh einfach weiter!“
riet ihr der Verstand. „Alles ist besser, als wieder hinaus zu müssen!“
Da, endlich, hörten die Schritte vor ihr auf. Verhaltenes Murmeln, das Geräusch einer sich öffnenden Tür
drangen an ihre Ohren. Nach wenigen Schritten holte sie die Alte ein. Wieder stand sie in einem quadratischen
Raum, dessen Grundriss dem der Diele glich. Ein kahles Zimmer, das man nur aufgrund seiner Größe nicht
als Halle bezeichnen konnte. Und doch war es hier irgendwie gemütlich. Gegenüber der Tür befand sich
ein Kamin, ein dampfender Kessel hing über dem Feuer und ein fremdartiger, aromatischer Duft stieg
der Frau in die Nase. „Setz Dich doch!“ forderte die Alte sie auf, und als sie sich umwandte, einen günstigen
Platz auszuwählen (von dem aus sie die Tür im Blick haben würde),- war der Eingang verschwunden.
Als habe die Alte ihre Gedanken gelesen, versicherte sie abermals: „Du bist hier in Sicherheit, Mädchen.
Ich will euch beide nur beschützen. Hierher werden sie niemals vordringen, und selbst wenn- in einem rundum
verschlossenen Raum werden sie niemals Menschen vermuten. Nein! Du darfst Deine Kräfte nicht verschwenden!
Dein Weg ist noch weit…“
Die Worte der Frau lullten ein, willenlos lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und ließ sich
hinabsinken. Als sie den Boden berührte, spürte sie etwas Warmes, Weiches unter sich,- ein Fell, wie sie feststellte.
Automatisch streckte sie sich lang aus und ihr Kopf fand sogleich eine bequeme Unterlage. Im Einschlafen noch
hörte sie das Murmeln, fremdartige, unverständliche Laute, an- und abschwellend, und der Duft vom Feuer
her ließ ihre Eingeweide sich entspannen. Als sie das Kind an sich drücken wollte, schlief sie ein.

Sie erwachte in ihrem Wärmeisolierten, meteoritensicheren Appartment.
„Guten Morgen, ich hoffe, Du hast gut geschlafen?Welche Musik darf ich spielen?“
Lena, ihre biomechanische Appartment- Servicekraft, begrüßte sie mit sanfter Stimme.
Wie bei allen moderneren von Menschen entwickelten Intelligenzen war es einem Nichtfachmann
unmöglich, festzustellen, wieviel von Lenas Fähigkeiten dem Verdienst sogenannter Programmierer entsprang,
oder was und wieviel diese sich selbst angeeignet hatte. Lena war ihr etwas unheimlich, manchmal fühlte sie sich
von ihrem eigenen Computer dirigiert, doch vermochte sie einfach nicht, sich von ihr loszureißen. Auf der Erde
hätte sie es vielleicht geschafft, da hätte sie einfach rausgehen können, doch hier…..Sie wußte kaum noch, wann
sie geflohen waren. Von ihrem Heimatplanteten trennten sie Milliarden von Lichtjahren.
Hier draußen war sie allein mit Lena.
Ein Zurück gab es nur noch in ihren Träumen. Sie trieb einsam durch das All, am Leben gehalten von den automatischen Funktionen dieser High- Tech- Raumkapsel, genährt von der Hoffnung, irgendwann auf andere
intelligente, gutmütige Wesen zu treffen und bei Verstand gehalten von ihrem Computer, ihrer einzigen Gesellschaft.
Es war das erstemal seit Langem, daß sie der Gedanke an Lena beunruhigte. Diese hatte inzwischen eine sanfte Melodie angestimmt, die durch den Raum zu schweben schien und in ihren Verstand eindrang. Was hatte sie nur
so erschreckt? Als sie es wünschte, erschien sofort ein Spiegel vor ihrem Gesicht, und beim Anblick ihres Gesichts
wurde ihr der Traum bewußt. Das Baby, die Alte, dieser Raum…..immer deutlicher erinnerte sie sich!
Sie träumte sehr oft, die Träume waren ihre einzige Abwechslung. Stundenlang schwebte sie mit geschlossenen
Augen durch den Raum, eingelullt von Lenas speziellen Traummelodien, die diese immer life komponierte und
ihren Bedürfnissen anpasste, sie träumte von Tom, den sie damals zurückgelassen hatte, von der rauhen, felsigen
Küstenlandschaft, die ihre Heimat gewesen war, vom weiten, unendlichen Meer, den Möwen, einem strohgedeckten
Fischerhäuschen hinter den Dünen, sie träumte von ihren Kindern, die nie geboren worden waren( was auch besser so
gewesen war!), von Urlaubsreisen…..ja, sie hatte sich im Geist ihre verlorene Welt wiedererrichtet und tauchte
regelmäßig darin ein. Auch im Schlaf, den ihr Körper im Grunde genommen nicht nötig hatte, glitt sie des Öfteren
in jene Welt.
Doch dieser Traum war anders gewesen. Sie war woanders gewesen: es schien ihr, in einer fremden Welt. Einer Traum-
welt, die realer war als ihr gegenwärtiges „Leben“. „Möchtest Du mit mir Schach spielen?“ ließ sich Lena vernehmen.
Die Stimme. Lenas Stimme! Schlagartig kam ihr das Gesicht der Alten vor Augen. Allmählich erinnerte sie sich…..
„Darf ich Dich darauf aufmerksam machen, daß es nichts als ein Traum ist, der Dich beschäftigt? Ich fordere Dich
auf, Deine Aufmerksamkeit der Realität zuzuwenden!“ Erklang Lenas sanfte, sachliche Stimme, und vor ihr erschien
ein Tisch mit einem Schachbrett darauf. Etwas schien hier nicht zu stimmen. Obwohl Lena des Öfteren sehr dominant in ihrem Auftreten war, hatte sie doch noch nie derartiges geäußert. Dieser Traum, das spürte sie nun immer deutlicher, war amders gewesen, etwas daran war anders gewesen. Etwas, das Lena nicht recht zu sein schien…

Als sie die Augen aufschlug, saß sie aufrecht, und über ihr Gesicht liefen Tränen. Sie zitterte. Unter ihrem Mantel
zog sie ein kleines, scharfes Messer hervor, und während sie, noch immer betäubt von der Wucht des Alptraumes, die Klinge in die Haut des Unterarms drückte, dachte sie nur immer und immer wieder: „Du bist wieder wach! Wenn du
Schmerzen fühlst, bist du wach! Es war nur ein Traum!“ Erst, als ihr Blut warm und klebrig über die Haut rann und
sie den Schnitt spürte, drang ihr der Traum noch einmal voll ins Bewußtsein. Die grenzenlose Einsamkeit…..das war
das Grauenvollste, was sie je erlebt hatte! Nein, nicht erlebt- sie hatte geträumt! Und- wo war sie jetzt?
Was war geschehen? Erst jetzt fiel ihr das Kind wieder ein- es war nicht mehr da! Auch von der Alten fehlte jede Spur. Sie hockte an der Wand des Raumes, in dem sie eingeschlafen war. Das Feuer war erloschen, doch stand vor ihren Füßen eine Schale mit duftender Fleischbrühe. Doch die Angst um das Kind schnürte ihr die Kehle zu. In dem
Augenblick öffnete sich die Wand und die Frau trat mit dem kleinen Bündel auf dem Arm ein. „Du hast lange geschlafen!“- Die Stimme traf sie wie ein Blitz. Es war die Stimme Lenas.

Der verborgene Stein, der reift sehr
schnell
Und kam zu Tag wie eine Ruebe
Letztendlich wurde er herausgeschnitten
Doch noch immer lauert die Gefahr.
Jener lebt am besten, dessen Schicksal es ist,
Halb verrückt und halb normal zu sein.




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